top of page
Pressefoto.jpg

NILS WRASSE

/

  • Black Instagram Icon

Die Welt ist voller Erschütterungen, und Künstler sind die sensiblen Seismografen, die diese Eruptionen hör- und sichtbar machen. Nils Wrasse ist ein junger Musiker, den es gerade von Berlin nach München verschlagen hat. Von Hause aus Jazz-Saxofonist, der sich bereits als Sideman in vielen Bands, Projekten und Sessions einen Namen gemacht hat, beschreitet er auf seinem Debütalbum „Geister“ ganz andere Wege. Genau genommen beschreitet er nicht nur andere Wege in bekanntem Territorium, sondern er öffnet für sich und seine Hörer ein völlig neues Terrain.

Nils Wrasse_Geister.jpg

Zum Album

Alles beginnt mit einem Puls, von dem sich nur schwer sagen lässt, ob es sich um den Takt des menschlichen Lebens, eine toxische Brandung oder das Einzählen der Apokalypse handelt. Auch die folgenden Tracks lassen unterschiedliche Interpretationen zu, denn Wrasse changiert zwischen trügerischer Idylle und eindeutigen Dystopien und lotst den Hörer durch seine flirrenden Traumwelten zwischen Hoffnung und Angst.

 

Der Produktion des Albums ging ein langer Bewusstwerdungsprozess voraus. Wrasse gehört nicht zu den Musikern, die nach Beendigung des Studiums sofort mit einem halben Dutzend Alben auf sich aufmerksam machen müssen. Das handwerkliche Rüstzeug hätte er allemal, doch er trug sich mit der Frage herum, ob er die tausendste Michael-Brecker-Kopie auf den Markt werfen oder einen essenziellen Beitrag leisten und damit ein unerhörtes Stück Musik kreieren solle. Da er sich nur ungern mit einfachen Antworten zufrieden gibt, wartete er ab, was sich in ihm zusammenbraute. Es bedurfte nicht erst der Pandemie und allen daraus resultierenden Folgen, dass er einen gewissen Unmut in sich aufkommen spürte, doch die Isolation während des Lockdowns ließ ihn dann doch zu drastischen Mitteln greifen. Der passionierte Team Player entschloss sich, alle Instrumente selbst zu spielen. „Ich wollte mich auf die Möglichkeiten beschränken, die mich in meinem Zimmer umgeben, und war gespannt, was dabei rauskommt“, bekennt er rückblickend.

 

So ließ sich Wrasse mit voller Konzentration auf sich selbst und sein Leben im Hier und Jetzt ein, das ihm letztlich die Geschichte seines Albums diktierte. Gesellschaftliche Themen kommen ebenso zum Tragen wie autobiografische Züge. Geplant war das bestenfalls unterbewusst, aber der Lockdown gab Anlass zum Innehalten, Rekapitulieren und Entrümpeln. „Ich sagte mir nicht, ich mache jetzt mal auf Dystopie, weil das Virus kommt, sondern da spielen viele Themen rein, die mich in den letzten Jahren unfreiwillig begleitet hatten. Deshalb gibt es eben nicht nur düstere, sondern auch sehr idyllische Momente. Das letzte Stück heißt nicht umsonst ‚Heimat’. Ich habe es in meinem alten Zimmer im Haus meiner Eltern eingespielt, in dem ich als 15-Jähriger Saxofon gespielt habe. Da saß ich plötzlich 15 Jahre später wieder und komponierte mein Album.“

 

Erstmals präsentiert sich Wrasse als Multiinstrumentalist. Klarinette und Querflöte spielte er nebenbei sowieso schon. Als Jugendlicher hatte er sich aber auch schon intensiv mit Filmen beschäftigt, selbst ein paar Streifen gedreht und dazu Soundtracks entwickelt. Mittlerweile studiert er in München Filmmusik und spürte, dass in ihm viel mehr steckt als der virtuose Holzbläser. Von seinem Professor war er ermutigt worden, sich selbst zu erforschen und auszuprobieren. So kamen unter anderem auch das Klavier und die Gitarre hinzu sowie jede Menge Electronics. Wrasse verabschiedete sich von den Bebop Lines und entdeckte eine ganze Reihe von Instrumenten neu.

 

Der größte Teil der Musik basiert auf Improvisation, doch aus einer zwanzigminütigen Session destillierte er manchmal nur wenige Sekunden, die er dann manipulierte und modifizierte. Wenn eine Idee nicht funktionierte, probierte er sie nicht ins Konzept zu pressen, sondern sagte sich, dann müsse eben eine andere Idee her. Wrasses einzige Vorgaben bestanden darin, alles selbst zu spielen, aufzunehmen, zu produzieren und immer dann weiterzumachen, wenn er selbst begeistert ist. Der Grat zwischen Torso und Vervollkommnung ist dabei extrem schmal, aber Wrasse konnte sich auf sein Gespür verlassen. Die Musik sortierte sich Aufnahme für Aufnahme zur Geschichte, der sich sein Ego als kreatives Subjekt unterordnen kann. Um sich selbst zu überraschen, kalkulierte er Fehler ein und ließ dem Zufall seinen Lauf.

 

Apropos Film: Nils Wrasse ist auf „Geister“ nicht nur Hauptdarsteller und Produzent, sondern auch Regisseur. „Es war für mich sehr befreiend, mal so Musik zu machen“, rekapituliert der frisch gebackene Allrounder. „All das zuzulassen war hingegen nicht sehr leicht. Es war nicht so, dass ich von Tag Eins in mein Musikzimmer gegangen wäre und das Gefühl von kompletter Freiheit gehabt hätte. Ich hörte ständig Stimmen in mir, ob das auch jemand außer mir hören wolle. Es brauchte ein paar Tage, bis ich mir sagen konnte, das ist mir jetzt aber egal. Als ich dann komplett in dieser Welt ankam, war das sehr beglückend.“

 

So kämpfen auf „Geister“ zwei völlig gegensätzliche Pole von Wrasses eigener Persönlichkeit gegeneinander an wie zwei Schollen der kontinentalen Drift. Dabei entstehen Hot Spots, die sich auf diesem Album entladen. „Geister“ ist ein kreatives Ventil einer ganzen Abfolge von Prozessen, mit denen Wrasse beileibe nicht allein ist. Aber gerade aus dieser teilweise schmerzenden Selbstehrlichkeit ergibt sich eben diese große Schnittmenge zwischen ihm und seiner potenziellen Hörerschaft. Nils Wrasse ist ein ebenso unkategorisierbares wie von allen Konventionen befreites Stück Musik gelungen, das individuelle Selbstzweifel in kreative Entschlossenheit transformiert und die soziale Verantwortung des Künstlers, egal welcher Sparte, neu definiert.

 

Wolf Kampmann, September 2021

bottom of page